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Geschichte der Geowissenschaften: Allgemeine Geologie

Neumayr & Uhlig (1897): Wildbäche und Muren

Historische Arbeiten

W. Griem, 2020

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Inhalt:
Wildbäche
Bildung von Muren
Abschnitte der Wildbäche
Verlauf eines Ereignisses
Stausee Bildungen
Ursache in Gletschern
Kombinierte Ursachen
Art der Verwüstungen
Abholzung der Wälder
Abb. 232: Wildbachverbauung
Historische Rückblicke
Schutzmaßnahmen

Foto/Scan - Digital Bearbeitet: (W.Griem, 2007, 2019); von: M.Neumayr / V.Uhlig  (1897)  "Bergsturz von St. Gervais in Savoyen, Juli 1892 "; Seite 472, in der OCR-Version p. 497, Abb. 231; Original Größe der Abbildung: 14 cm x 10 cm.
Abb. 231: Bergsturz von St. Gervais in Savoyen, Juli 1892

Neumayr, M. Uhlig, V. (1897): Erd­ge­schichte. - Band 1: 692 Seiten, 378 Abbil­dun­gen; Band 2: 700 Seiten, 495 Abbil­dungen, Verlag Biblio­graphi­sches Insti­tut, Leip­zig und Wien.
[Samm­lung W. Griem]

Albert Heim (1849 - 1937), Schweizer Geologe, Initiator der Kontraktionstheorie. Führte die Tektonik generell auf eine Kontraktion der Erde durch Ihre Abkühlung zurück. Heim war Professor für Geologie an der ETH, arbeitete an vielen wissenschaftlich Projekten, aber auch als Konsultor bei Ingenieurs-Geologischen Fragestellungen wie dem Tunnelbau z.B.
Generell sah er in Horizontalkräften in der Tektonik keine wichtigen Diskussionspunkte. Die Vertikalen Komponenten waren seiner Meinung viel wichtiger.

Der Bergsturz von Elm:
"von 1000 Menschen wurden 115 verschüttet und erschlagen, 83 Gebäude zerstört, der Schieferbruch, eine Haupteinnahmequelle der Einwohner, und die fruchtbarsten Talstrecken für immer verwüstet."

"Erscheinung dieser Art aus vorhistorischer Zeit bilden nach Heim die Reste des Sturzes von Flims in Graubünden" - ist noch heute einer der größten ermittelten Bergstürze. Er wird heute aus etwas unter 10.000 Jahren datiert. Die Bewegte Masse soll etwa 12 km3 betragen. Noch heute hat der Rhein nicht sein ursprüngliches Bett erreicht.

 

Die Abbildungen wurden mit einem HP Scanjet G3110 mit 600dpi eingescannt, danach mit Corel Draw - Photo Paint (v. 19) digital bearbeitet. Speziell Filter der Grau­stufen­verbesserung, Elimination von Flecken sowie Ver­besserung der Schärfe wurden bei der Bild­bearbeitung angewandt (W. Griem 2020).

Die Texte wurden mit einer Pentax Kr-3 II digi­talisiert und später mit ABBYY (v.14) ver­arbeitet und zur OCR vor­bereitet. Fraktur­schriften wurden mit ABBYY Fine Reader Online in ASCII umge­wandelt; "normale" Schrift­arten mit ABBYY Fine Reader Version 14.
Die Texte wurden den heutigen Recht­schreib­regeln teil­weise ange­passt, es wurden erläuternde und orien­tierende Zeilen ein­gefügt (W.Griem, 2020).

Schlammlavine in Saint Gervais

Wildbäche waren eine der größten Bedrohungen in den Alpen und anderen Gebieten der Erde. Neumayr & Uhlig (1897) stellen deutlich die Aufgaben der Geologie in den Vordergrund hier einzugreifen, und Lösungen Anzubieten. Auch wird im Text deutlich, dass schon im Mittelalter die Wichtigkeit des natürlichen Bewuchses erkannt wurde um Tragödien durch Schlammlawinen zu bannen.

Original Text von Neumayr & Uhlig, 1897;
p. 469 in der Original-Version; p. 495 in der OCR Version
[vorheriger Text: Massenbewegungen]

Wildbäche.
Bei vielen der bis jetzt besprochenen Erscheinungen fällt der Einwirkung des Wassers nur eine ganz untergeordnete Rolle zu, bei anderen dagegen, z. B. bei der Katastrophe von Anguri, war dessen Tätigkeit eine sehr wichtige. Wir werden durch solche Vorkommnisse zu einer anderen Gruppe von Vorgängen hinübergeführt, zu den plötzlich vorbrechenden Wasser- und Schuttströmen im Hochgebirge, den Wildbächen. Wer je die Alpen besucht hat, kennt die Ungeheuern Massen von Geröllen, die ihrer ganzen Lagerung und Beschaffenheit nach in junger Zeit vom Wasser herabgeschwemmt worden sein müssen, ohne daß irgend ein nennenswerter oder überhaupt irgend ein Wasserlauf vorhanden wäre, dem der Transport zugeschrieben werden könnte. Von Seitenschluchten aus, die unter normalen Verhältnissen fast trocken liegen, sieht man riesige Schuttkegel in das Haupttal hinausreichen, und der Unerfahrene, der mit der plötzlich ausbrechenden Wut der Alpenwasser nicht vertraut ist, sieht sich staunend nach der bewegenden Kraft für diese Schuttmassen um. Er braucht aber nur ein Hochgewitter im Bereich dieser Runsen erlebt zu haben, um die Erklärung zu finden. Von allen Seiten rauschen die Wasser gegen den Boden der Schlucht, und wo vor einer halben Stunde volle Trockenheit herrschte oder nur ein unbedeutendes Bächlein rieselte, tost nun ein wütender Bergstrom herab, dickschlammiges Wasser führend, das massenhafte Gerölle, Steine, Felsblöcke zusammen mit entwurzelten Bäumen in die Tiefe wälzt. Eine ähnliche Wirkung übt eine rasche Schneeschmelze, namentlich infolge einfallenden Föhnsturmes, und unter Umständen sind die Mengen der festen Teile, die mitgeführt werden, so groß, daß man es nicht mehr mit einem sich rasch bewegenden Wasser, sondern mit einer sich unaufhaltsam vorschiebenden dickbreiigen Schlamm- und Schuttmasse zu tun hat, die sich dann, wo geringeres Gefälle eintritt, in beträchtlicher Dicke ablagert. Wohl jedem Alpenwanderer, der viel herumstreift, ist es schon widerfahren, daß er von einem solchen Erguß in seinem Wege gehindert war und ratlos nach einer Möglichkeit umherblickte, ihn zu überschreiten. Es sind das die vielgefürchteten Muren oder Murbrüche, in der Schweiz Ruffi genannt, die in schwächerer Entwickelung als häufige Begleiter heftiger Gewitter auftreten. Bisweilen erreichen sie aber so riesenhafte Dimensionen, daß viele Strecken fruchtbaren Landes und ganze Dörfer mit Schutt überdeckt, „vermurt", und große Flüsse durch die aus Seitentälern hervorbrechenden Massen abgedämmt und gestaut werden.

Bedingungen zur Bildung von Schlammlawinen:
Die Bedingungen für die Entstehung der Murbrüche sind sehr einfach: stark geneigter Boden, dessen Beschaffenheit ein sehr rasches Abfließen des Wassers begünstigt, und das Vorhandensein großer loser Massen, zu deren langsamer und geregelter Wegschaffung die vorhandenen Wasserläufe bei normaler Stärke nicht ausreichen, das sind die Verhältnisse, unter denen ein Talsystem zum „Murgang" wird. Wo die losen Massen fehlen, da findet zwar unter Umständen nach Regengüssen ein plötzliches sehr starkes Anschwellen der Wasser statt, aber dieses Wasser bringt nicht die enormen Schuttmengen mit. Anderseits treten die erwähnten Folgen auch bei starker Neigung des Bodens und trotz mächtiger Massen losen Materials nicht ein, wenn die Verhältnisse dem augenblicklichen Ablauf des Wassers nicht günstig sind, vor allem, wenn reicher Waldwuchs hindernd entgegentritt.

In den Alpen trägt besonders ein Umstand dazu bei, den Murgängen reichliches Material zuzuführen: in den meisten Tälern sind die Gehänge der Berge mit außerordentlich mächtigen Massen von Schutt aus der Eiszeit bedeckt, und zwar sind es bald direkt Moränen aus jener Zeit, bald durch deren Umschwemmung erzeugte Ablagerungen von Tonen, Landen und Geröllen, Bildungen von sehr geringem Zusammenhang und Widerstandskraft, die von den Hochwassern leicht aufgewühlt werden.

Abschnitte der Wildbäche:
Man kann im Tallauf der „murenden" Wildbäche drei Abteilungen unterscheiden. Zu oberst an den Gehängen breitet sich das Sammelbecken oder der Trichter aus, meist eine kessel- artige Erweiterung des Hinteren Talgrundes, von einer Menge untergeordneter Rinnen durchzogen, die alle auf die äußere Felsumrandung des Sammelbeckens zulaufen, bis sie sich endlich sämtlich in eine einzige tief eingerissene Schlugt, den Abzugskanal, „Tobel" oder „Hals", des Wildbaches vereinigen. Das Sammelbecken liegt immer unterhalb der Schneegrenze und oberhalb der Waldgrenze. Wo nicht entforstet ist, bleibt also ein engerer Raum für die Geburtsstätte der tosenden Wasserstürze; wo dagegen die Berge des schützenden Baumwuchses entkleidet sind, kann sich das Wasser sehr weit ausdehnen, und um so größer und gefährlicher werden die Fluten. Der Abzugskanal oder Tobel, der zweite Abschnitt des Wildbaches, ist eine verhältnismäßig enge, oft sehr tief eingerissene Schlucht. Wo sie in eine Talweitung endet, da wird der Schutt der Mure abgelagert; er breitet sich in einem flachen Kegel aus, dem Schutt- oder Schwemmkegel, der den dritten Abschnitt des Wildbaches bildet.

Verlauf eines Ereignisses:
„Nach ausgiebigem atmosphärischen Niederschlag oder bei plötzlichem Abfließen von Schmelzwasser wird binnen kürzester Zeit das Schuttmaterial des Sammelbeckens vollständig durchtränkt und aufgeweicht; es wird dadurch viel schwerer, als es früher war, und kommt ins Gleiten und Rutschen. Ein dicker Brei, ein teigartiges Gemenge von etwa zwei Dritteln Schlamm, Schutt und Felsentrümmern und einem Drittel Wasser, wälzt sich aus dem Sammelbecken durch den engen Tobel hinab und ergießt sich über die Niederungen. Mit Einem Erguß ist es selten abgetan; meistens folgen in kurzen Zwischenräumen mehrere kräftige Nachschübe, hervorgerufen durch Stauungen des lavaähnlichen Schlammbreies, wie sie in dem Tobel leicht entstehen können. Während der Wildbach in dem Sammelbecken vorzugsweise aufwühlt und herabschleppt, stößt er bei Passierung des Tobels große Löcher in dem Bette aus; diese Auskolkungen sind jedoch weniger gefährlich als die einseitigen Unterwaschungen der Tobelwände, infolge deren jederzeit die großartigsten Abrutschungen und Einstürze erfolgen können. Der Tobel, welcher bereits inmitten der Waldregion liegt und oft zwischen turmhohen Mauern von Glazialschutt eingeschnitten ist, wird dann durch herabstürzende oder von oben mitgebrachte Baumstämme, durch Wurzelwerk und riesige Felsblöcke förmlich verstopft. Diese Abdämmung der engen Schlucht dauert so lange an, bis die aus dem Sammelbecken sich unaufhörlich herabwälzenden Schlamm- und Wasserwogen die Sperre durchbrechen können. Mit um so größerer Wucht sausen jetzt die haushohen Schlammfluten unter polterndem Getöse durch die Enge des Tobels hinunter in die Talweitung. Der Boden zittert, Fenster klirren wie bei einem Erdbeben, Funken sprühen von den aufeinander prallenden Felstrümmern, ringsum verbreitet sich ein brenzliger Geruch. Endlich gelangt die Masse, fächerförmig sich ausbreitend, zur Ablagerung. Unter dem zyklopischen Haufwerk des Schwemmkegels verschwindet alles, was im Wege liegt; kaum ragen von den stattlichen Häusern die Schornsteine heraus. Weithin bezeichnet den Lauf des Wildbaches ein trostloses Bild der Zerstörung." (G. A. Koch.)

Dies ist der Verlauf eines Murbruches gefährlicher Art. Besonders bedenklich werden seine Folgen, wenn der Wildbach in ein größeres Tal mündet und hier das Bett des Flusses abdämmt. Bisweilen sind die Massen so groß, daß der Fluß sie nicht zu bewältigen vermag. Er wird dann zum See aufgestaut, dessen Wasser die Felder verwüsten und die Wohnungen der Menschen bedrohen. Manchmal entsteht so ein bleibender See, wie das in mehreren Fällen in den Alpen geschehen ist; weit häufiger aber durchbricht der Fluß im Laufe der Zeit die aufgeworfene Barre, und der See läuft wieder ab. Glücklich, wenn das langsam und allmählich geschieht; wenn aber der Damm plötzlich zerrissen wird, dann stürzt die angesammelte Wassermasse, alles vor sich zerstörend, talabwärts. Die gewaltigsten und verheerendsten Murbrüche erfolgen meist durch die Mitwirkung besonderer Faktoren, die sich glücklicherweise nicht häufig wiederholen. In der Nacht vom 17. auf den 18. August 1801 ging im Tale des Ganderbaches in Südtirol eine Mure zum Eisacktal nieder, durch die 43 Menschen ums Leben kamen und 16 Häuser im Dorfe Kollmann zerstört wurden. Der Eisack wurde durch die Masse des herabgelangten Gesteins gestaut, der Eisenbahndamm auf 700 m Länge zerstört und mit Blöcken bis zu 20 cbm Inhalt überschüttet. Dies alles war das Werk von wenigen Minuten, aber es konnte nur geschehen, weil durch ein der eigentlichen Katastrophe vorausgehendes Hochgewitter eine Bergrutschung entstanden war, durch die das Tal hoch oben im Gebirge abgesperrt und in einen Stausee verwandelt wurde. Um Mitternacht folgte ein zweiter Wolkenbruch; nun vermochten die vorgelagerten Gesteinsmassen den Druck des gewaltig angewachsenen Stausees nicht mehr zu ertragen, und mit rasender Gewalt brach die ganze Masse von Wasser und Gestein über das unglückliche Tal herein.

Stausee Bildungen:
Die Bildung eines Stausees war auch die Ursache der furchtbaren Überschwemmungen, die in den Jahren 1887, 1888, 1889 und 1891 stets im Monat Juni das Martelltal in Südtirol heimsuchten; nur war dieser See in anderer Weise entstanden. In das oberste Martelltal reichen zwei Gletscher herab; der tiefer unten mündende Zufallferner schiebt seine mit Moränenschutt beladene Eiszunge bis an die jenseitige Talwand und schließt dadurch das obere Tal mit dem Langenferner ab. Natürlich mußte nun zwischen dem Ende des Zufallferners und dem Langen- ferner ein Eissee aufgestaut werden, der schließlich für das Schmelz- und Niederschlagswasser nicht mehr genügte und endlich durchbrochen wurde. Durch das ganze Martelltal bis in das Etschtal hinab erstreckten sich die furchtbaren Vermurungen dieser Ausbrüche.

Ursache in Gletschern:
In der Gletscherregion ist auch die Ursache der Eis-, Schlamm- und Steinlawine zu suchen, die in der Nacht vom 12. Juli 1892 den Badeort St.-Gervais und die Ortschaft Bionnay am Abhang des Montblanc heimgesucht und nicht nur gewaltige Verwüstungen angerichtet, sondern auch viele Opfer an Menschenleben gefordert hat. Am Stirnende des kleinen Gletschers Teterousse hatten sich zwei große trichterförmige Höhlungen gebildet, in denen Wasser eingeschlossen war, das, vielleicht durch Verstopfung der Austrittsstellen, nur ungenügenden Abfluß fand, bis es endlich samt dem Eise der Gletscherzunge und dem Moränenschutt ausbrechen mußte. Beladen mit Geröllmassen, Felsblöcken und Schlamm gelangte die Lawine mit rasender Geschwindigkeit ins Tal, füllte, sich fortwährend vergrößernd, die Schlucht von Bionnay 35 m hoch an, vergrub den unglücklichen Badeort St.-Gervais und ergoß sich endlich bei Le Fapet erschöpft in die Arve. Von der Gewalt der Bewegung gibt die Tatsache eine Vorstellung, daß einzelne der fort- geschobenen Blöcke bis zu 200 cbm Inhalt hatten, wie der auf S. 472 abgebildete Block, der mitten im Badeort liegen blieb, an der Stelle, wo früher der Speisesaal gestanden hatte. Die Masse des talwärts gebrachten Materials wurde auf 800.000 cbm geschätzt.

Kombinierte Ursachen:
Kann schon eine einzelne Mure so fürchterliche Folgen mit sich bringen, so begreift man die Ungeheuern Verwüstungen, die entstehen, wenn nicht nur ein oder der andere Wildbach in Tätigkeit tritt, sondern infolge abnormer meteorologischer Vorgänge in kurzer Zeit über ein großes Gebiet außerordentliche Regenmengen fallen. Von allen Seiten brechen aus den Schluchten und Tälern die Schlamm- und Wasserfluten hervor, die Flüsse der Haupttäler selbst schwellen dann gewaltig an, überschwemmen, unterwaschen ihre Ufer und überschütten weite Flächen fruchtbaren Landes mit sterilem Schutt. Solche Verhältnisse waren es, die z. B. im Herbste 1882 die furchtbare Katastrophe über Südtirol, Kärnten und die venezianischen Alpengebiete herbeiführten. Das ganze Wassergebiet der Drau, der Gail, der Rienz, des Eisack, der Etsch, der Sarca, Brenta und Boite wurde verwüstet; in Kärnten und Tirol kamen 53 Menschen in den Schlammfluten um, und der Schade an vernichteten Werten wird auf 25 Millionen Gulden angeschlagen; auf italienischem Gebiet dürften annähernd ebenso große Verluste zu beklagen sein.

Art der Verwüstungen:
Wir wollen die einzelnen Beschädigungen bei diesen und ähnlichen Katastrophen nicht weiter verfolgen. Wir beklagen die Opfer, die der entfesselten Naturgewalt zum Opfer fielen, wir bedauern die Unglücklichen, deren Häuser von der Schlammflut zerstört wurden; aber trotzdem können wir uns der Überzeugung nicht verschließen, daß die schlimmsten Folgen, die nachhaltigsten und traurigsten Wirkungen, in der Verschüttung der Felder, in der Verwüstung des Bodens liegen, der vor kurzem noch reiche Nahrung bot und nun in eine steinige Schuttwüste verwandelt ist. Hier wirken nicht nur die wildesten Murbäche, sondern unausgesetzt geht der Prozeß vor sich, durch den der Schutt aus den Hochregionen herabgeführt und über die fruchtbaren Kulturstrecken der Täler ausgebreitet wird. Immer mehr greisen die kahlen Schottermassen um sich und engen den Raum ein, dessen Erzeugnisse die Einwohnerschaft ernähren sollen. Die ohnehin im Verhältnis zur Ertragsfähigkeit des Bodens zum Teil übervölkerten Alpenländer verlieren von Jahr zu Jahr an Leistungsfähigkeit. Wer die Gegenden nicht näher kennt, ist in der Regel geneigt, die Bedeutung dieser Übel zu unterschätzen, er ahnt nicht, wie riesige Dimensionen sie annehmen. Allerdings sind nicht alle Teile der Alpen in gleicher Weise heimgesucht. Am schlimmsten sind die Verheerungen in dem französischen Teile, in den Departements der Hautes- und Basses-Alpes und der Alpes maritimes; Jahr um Jahr geht die Bevölkerung zurück, und man nimmt an, daß die Oberprovence in der Zeit vom 15. bis zum 18. Jahrhundert die Hälfte ihres kulturfähigen Bodens verloren habe. In der kurzen Zeit von 1842 — 52 allein soll nach einer allerdings fast nicht glaublichen Angabe ein volles Viertel des Kulturlandes unrettbar verwüstet worden sein.

Die Gründe, die Abholzung der Wälder:
Man wird sehr natürlich einwenden, wie es denn bei einer so furchtbar energischen Wirksamkeit der Wildbäche komme, daß nicht schon längst alle Talgründe vermurt seien. In der Tat waren in früherer Zeit die Verwüstungen bei weitem nicht so groß und gefährlich wie heute; sie haben erst durch die unsinnige Abholzung der Wälder in so gewaltigem Maße zugenommen. Wenn man aber bisweilen hört, die Entwaldung sei die Ursache des Auftretens von Wildbächen und Murbrüchen, so ist diese Angabe nicht buchstäblich zu nehmen. In der Region zwischen dem oberen Rande der Wälder und der unteren Grenze der Schneefelder können sich immer Sammelbecken ausbilden, und bei überaus heftigen Regengüssen, die an manchen Punkten der Alpen schon über 250 mm Wasser in 24 Stunden ergeben haben, Schlammströme ergießen. Wolkenbrüche, wie sie im Jahre 1882 in den Südalpen niedergegangen sind, werden unter allen Umständen üble Folgen haben und Felder und Wiesen mit Geröll verschütten; es handelt sich nur um die Größe und um die Häufigkeit dieser Erscheinungen, und darauf hat unbestritten der Wald- wuchs den weitgehendsten Einfluß. Der Wald „bindet" den Boden und hindert die Abschwemmung loser Massen, er vermindert die Verwitterung des darunter liegenden Gesteins und hemmt den raschen Abfluß des Wassers, das in großer Menge aufgesogen wird. So kommt es, daß sich im Waldgebiet keine Sammelbecken ausbilden können. Wird aber der Forst gelichtet, dann erweitern sich die Sammelbecken, und kein Widerstand setzt sich dem Murbruch mehr entgegen, denn die Grasnarbe der Alpenweiden bietet nur einen sehr unvollkommenen Schutz. Aber nicht nur die Waldverwüstung ist in hohem Grade verderblich; oberhalb der Region der Hochstämme sind die Abhänge von dem oft undurchdringlich verflochtenen, zähen Gestrüppe der Legföhren bewachsen, oder die buschigen Polster der Alpenrosen und Vaccinien überziehen die Böschungen und bieten eine treffliche Abwehr gegen wild abstürzende Wasserfluten. Es ist ganz überraschend, welch außerordentliche Mengen von Flüssigkeit namentlich die zwischen den Alpenrosen üppig wuchernden Moosrasen aufsaugen. Allein auch dieser Vegetationsform ist der Krieg erklärt, sie muß fallen, um eine Ausdehnung der Alpenweiden zu ermöglichen, und damit ist weiterer Raum für die Murbildung gewonnen.

Das drohende Überhandnehmen und die verderbliche Ausbreitung der Wildbäche müssen unbedingt dieser Ursache, der leichtfertigen Vernichtung der natürlichen Schutzwehren um eines raschen Gewinnes willen, zugeschrieben werden. „Wo der Wald fällt, fangen die Murbrüche an", sagt ein ausgezeichneter Kenner dieser Verhältnisse, und aus allen Teilen der Alpen lassen sich zahllose Beispiele für die Richtigkeit dieses Ausspruches anführen. Die bayrischen Berge, in denen eine sehr ausgebildete Forstkultur herrscht und der Wald in der sorgsamsten Weise geschont wird, haben nur wenig von Wildbächen zu leiden; in den französischen Alpen, wo die Entholzung am weitesten vorgeschritten ist, haben die Verwüstungen den höchsten Grad erreicht, so daß im Jahre 1853 der Präfekt Bouvilles in einem amtlichen Berichte sagen konnte: „Wenn nicht energische Maßregeln getroffen werden, so kann man die Zeit Vorhersagen, wo die französischen Alpen eine Wüste sein werden und Frankreich ein Departement weniger zählt."

Abb. 232: Wildbachverbauung - Neumayr & Uhlig

Abb. 232: Wildbachverbauung 

 


Historische Rückblicke:
Schon vor 500 Jahren hatte man die schlimmen Folgen der Waldverwüstung eingesehen; die Benediktinermönche von Embrun im Brianconnais z. B. belegten jeden Forstfrevler mit dem Kirchenbann. Aber von der Erkenntnis der Ursachen bis zur Ergreifung der als notwendig erkannten Hilfsmittel ist ein weiter Weg, namentlich dann, wenn sie Verzicht auf momentanen Vorteil zugunsten der Zukunft, Aufopferung des Einzelnen für die Gesamtheit und das Brechen mit allhergebrachten Gewohnheiten fordern. Bändigung der Wildbäche durch Talsperren und Aufforstung der entwaldeten Berge, das sind die beiden Mittel, die zwar nicht alle Schäden heilen, aber sie doch wesentlich zu mindern imstande sind. Allerdings müssen sie streng planmäßig und im größten Maßstab angewandt werden, wenn sie nützen sollen. Insbesondere ist die Anlage von Talsperren ein sehr zweischneidiges Mittel, das, in unrichtiger Weise angewandt, nicht nur keine Abhilfe bringt, sondern sogar das Übel noch in hohem Grade steigern kann. Heini sagt ganz richtig: „Eine schlechte Sperre ist schlechter als gar keine." Ist sie an ungünstiger Stelle angelegt oder ungenügend ausgeführt, so bricht sie zwar eine Zeitlang die Gewalt kleinerer Fluten; aber bei einer großen Katastrophe wird sie überwältigt und hat dann einfach die Wirkung, eine große und höchst gefährliche Stauung hervorgebracht zu haben, nach deren Überwindung der Wildbach mit verdoppelter Wut hervorbricht. So wurde Ragaz im vorigen Jahrhundert durch den Bruch einer Sperre in der Tamina plötzlich 4—5m hoch überschüttet. Ja, selbst wenn der Bau gut und regelrecht ist, bleibt es doch immer bedenklich, einer einzigen Sperre alles anzuvertrauen, wie das z. B. bei der Verbauung des Fersinatales bei Trient der Fall ist. Die Fersina, einer der gefährlichsten Wildbäche in ganz Tirol, mündet unmittelbar bei Trient von Osten her in das Etschtal und bedroht die Stadt und ihre herrlich fruchtbare Umgebung mit ihren Schuttmassen. Zum Schutze ist im 16. Jahrhundert eine mächtige Talsperre bei Pontalto im Fersinatal angelegt worden, die verschiedene Male weiter auf- gebaut wurde und jetzt eine Höhe von 35 m hat; aber obwohl sie im Jahre 1883 um 1 m erhöht wurde, liegt der abgelagerte Schutt nur etwa 1 ½  m unter ihrer Krone. In früheren Jahrhunderten ist sie viermal eingestürzt, jedesmal unter großen Verwüstungen der talabwärts gelegenen Gegenden

Schutzmassnahmen:
Man hat in neuerer Zeit ein rationelleres Mittel gewählt, das Übel an der Wurzel anzugreifen, das heißt die Wildbäche nicht erst weit unten in ihrem Tobel zu verbauen, sondern die Arbeiten hoch oben im Sammelgebiet zu beginnen. Zwar sind manche verdienstliche Leistungen solcher Art aus früherer Zeit zu nennen, aber in großartigem Maßstab, in ganz konsequenter Weise und dafür auch mit gutem Erfolg ist man erst in neuerer Zeit in den französischen Alpen und Pyrenäen zu Werke gegangen, und die dortigen Leistungen dienen jetzt als Muster für alle anderen Unternehmungen (s. obenstehende Abbildung). Bis in die obersten Teile der Runsen und in allen Verzweigungen werden gemauerte Talsperren angelegt, die die Aufgabe haben, das Gefälle des Wassers zu brechen und das Geröll zurückzuhalten, und zwischen ihnen werden zahlreiche kleinere, „lebende" Sperren angebracht, indem man quer durch das Bett Stränge von Flechtwerk aus Zweigen zieht, die wieder ausschlagen und eine Bestockung mit Sträuchern Hervorbringen; ebensolche Faschinenlagen werden auch längs des Baches an den Gehängen angebracht. Hand in Hand damit muß die Aufforstung des ganzen Gebietes gehen.

Die furchtbaren Katastrophen des Jahres 1882 haben dazu angeregt, auch in anderen Alpenbezirken die Verbauung und Aufforstung energisch in Angriff zu nehmen, und namentlich in Südtirol und Kärnten werden Anstrengungen in dieser Richtung gemacht. Wird das begonnene Werk planmäßig und mit Energie fortgesetzt, so darf man hoffen, daß die Zahl der Murbrüche vermindert, die Verschüttung des Bodens hintangehalten und verlangsamt wird. Die angewandten Maßregeln als ein Universalmittel anzusehen und zu glauben, daß die Wildbachschäden ganz aufhören werden, wäre törichte Träumerei; Wolkenbrüche werden immer verheerende Wirkungen haben, Schutt wird immer zur Tiefe strömen, man kann das Übel nicht heben, aber man kann es vermindern und erträglich machen.


Ende p. 476 in der Original Version; p. 501 in der OCR Version.



Literatur:

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Publiziert: 9.2.2020 / Aktualisiert: 9.2.2020, 5.9.2020
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