Historische Arbeiten
W. Griem, 2020Inhalt der Seite:
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Neumayr, Uhlig (1897)
Geologie
Inhalt:
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Wirkung des Eises
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Das Fluß-Eis
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Eisstau
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Die Gletscher und ihre Bewegung
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Die Schneegrenze
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Gletscherbildung
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Die Alpinen Gletscher
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Die Tiefe der Gletscher
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Die Neigung der Gletscher
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Bewegung der Gletscher
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Messung der Geschwindigkeit
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Gegenstände im Gletscher
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Beispiele der Geschwindigkeit
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Unterschiede in Bereichen
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Abb. 268: Gletscher in Norwegen
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Jahreszeiten: Gletscherfluss
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Gletscherdynamik, Abbtauprozesse
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Ablation des Eises
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Magnitude der Ablation
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Gletschertisch und Fremdkörper
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Abb. 269: Ein Gletschertisch
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Wasser in den Gletschern
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Bewegung des Gletscherwassers
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Das Gletschertor
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Spannungen - und Spaltenbildung
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Regeneration des Gletscherbruchs
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Alte Dilaterationstheorie
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Druck und Temperaturbedingungen
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Abb. 272: Karte Obersulzbach
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Periodizität der Gletscher
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Gletscher als Klimaindikator
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Gletscherzunahme im Mittelalter
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Gletscher in anderen Regionen
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Gletscher in polaren Regionen
● Grönland
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Abb. 273: Grönländisches Inlandeis
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Bewegung grönländisches Eis
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Schmelzwässer in Grönland
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Abb. 275: Gletscher-Gufferlinien
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Erosion, Transport - Gletscher
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Herkunft der Gesteinstrümmer
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Zusammenfließen der Gletscher
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Die Grundmoräne
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Lateralgrenzen der Gletscher
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Abb. 276: Gekritztes Geschiebe
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Moränen in verschiedenen Epochen
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Eis als Landschaftsbildner
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Abb. 277:
Rundhöckerlandschaft
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Erodierende Wirkung der Gletscher
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Differenzierte Betrachtung
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Grönland Beispiel der Eiszeit
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Formen der Eiszeit
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Eiszeit in Norddeutschland
Foto/Scan - Digital Bearbeitet: (W.Griem, 2007,
2020);
von: M.Neumayr / V.Uhlig (1897)
"Gletscherspalten."; Seite
547, Original Größe der Abbildung:
13 cm x
8
cm.
Titel: Gletscherspalten., Abb. 271 in der OCR Version
Neumayr, M. Uhlig, V. (1897): Erdgeschichte. -
Band 1: 692
Seiten, 378
Abbildungen; Band 2: 700 Seiten, 495 Abbildungen, Verlag Bibliographisches Institut,
Leipzig und Wien.
[Sammlung W. Griem]
Die Abbildungen wurden mit einem HP
Scanjet G3110 mit 600dpi eingescannt, danach mit Corel Draw - Photo
Paint (v. 19) digital bearbeitet. Speziell Filter der
Graustufenverbesserung, Elimination von Flecken sowie Verbesserung der
Schärfe wurden bei der Bildbearbeitung angewandt (W. Griem 2020).
Die Texte wurden mit einer Pentax
Kr-3 II digitalisiert und später mit ABBYY (v.14) verarbeitet und zur
OCR vorbereitet. Frakturschriften wurden mit ABBYY Fine Reader Online in
ASCII umgewandelt; "normale" Schriftarten mit ABBYY Fine Reader Version
14.
Die Texte wurden den heutigen Rechtschreibregeln teilweise angepasst, es
wurden erläuternde und orientierende Zeilen eingefügt (W.Griem, 2020).
Originaltext von Neumayr & Uhlig, 1897 - Eis und
Gletscher [3]
p. 547 in der Original - Fraktur Version; p. 569 in der OCR Version
[hier
zum vorigen Text]
Das Gletschertor:
Wo der Gletscherbach ins Freie tritt, bildet sich häufig ein mächtiges
Gewölbe von mehreren Metern Höhe, das Gletschertor. Diese Tore und die
sich anschließenden Eisgrotten gehören zu den gerühmtesten Schönheiten
der Gletscherwelt, deren spiegelnde Wölbung ein herrliches Farbenspiel
von blauem und rötlichem Lichte zeigt. Die beigeheftete Tafel „Das
Gletscherthor am Rhonegletscher" gibt ein treffliches Beispiel. Leider
hat der gewaltige Rückgang der Gletscher in den letzten Dezennien gerade
einige der wunderbarsten Eispaläste zerstört.
Hauptsächlich durch das Gletschertor, aber auch durch andere Spalten und
Wetterlöcher gelangen warme Luftströmungen in das Innere und unter den
Gletscher und vermitteln in Verbindung mit dem Bachwasser der Talgehänge
die Auslösung des Gletschers von unten her. Die Wassermenge des
Gletscherbaches, das Ergebnis der gesamten Schmelzungsvorgänge, wechselt
sehr stark mit den Tages- und Jahreszeiten; namentlich an heißen
Sommernachmittagen rauschen mächtige Ströme trüben, milchigen oder
grauen Wassers hervor, während der Abfluß des Morgens weit schwächer ist
und im Winter natürlich die Schmelzung gar keinen Zuschuß liefert. Wenn
trotzdem aus der Stirn vieler Gletscher auch bei kaltem Wetter Bäche
hervortreten, die dann klar und kristallhell sind, so rühren deren
Wasser lediglich von Quellen her, die unter dem Gletscher dem Boden
entspringen.
Spannungen - und Spaltenbildung:
Infolge des Fließens der Gletschermasse und der Unebenheiten und
Ungleichmäßigkeiten des Bettes entstehen im Gletschereis innere
Spannungen, und diese finden in den schon mehrfach erwähnten Spalten (s.
Abbildung 271) ihre Auslösung. Ein dumpf-krachendes oder klingendes
Getöse begleitet im Beginn die Spaltenbildung, man sieht einen einfachen
Riß im Eise, der sich bald schnell, bald langsam fortsetzt und zu
klaffen anfängt. Breite und Tiefe dieser tückischen Spalten, die bei
Mangel an Vorsicht und Erfahrung zu einer ernsten Gefahr der
Gletscherwanderung werden, können bedeutende Dimensionen annehmen; es
ist vorgekommen, daß man mit Senkleinen von mehr als 200 m Länge den
Grund nicht erreichen konnte. Wo der Gletscher einen Felsvorsprung zu
passieren hat, da treten rings um diesen herum Berstungen ein,
Randspalten, die sich meist strahlenförmig um den hemmenden Pfeiler
stellen; Längsklüfte, der Achse des Gletschers mehr oder weniger
parallel, bilden sich hauptsächlich da, wo sich die Eismasse, aus
engerem Bett in eine Weitung vortretend, plötzlich ausbreitet. Die
Querspalten endlich, die wichtigsten und verbreitetsten von allen,
verdanken ihre Entstehung Unebenheiten des Talbodens; wo dieser eine
stärkere Neigung annimmt, da bewegt sich das Eis auf der abschüssigen
Unterlage schneller und wird infolgedessen von dem weiter oben
gelegenen, noch langsam vorrückenden Eise durch eine Spalte getrennt. Je
stärker der Unterschied in der Neigung ist, und je rascher er eintritt,
um so mehr häufen sich die Zerreißungen, und an Stellen, die ein Bach
etwa in einem Wasserfall übersetzen würde, an höheren Talstufen, bilden
sich die sogenannten Gletscherbrüche aus einer Häufung zahlreicher
gewaltiger Querspalten: durch zahlreiche Klüfte zerteilt, steht das Eis
in Scheiben, Türmen, Pyramiden, Mauerzinnen da, dazwischen Blöcke und
Trümmer gestürzt, das Ganze ein gigantisches Chaos, ein Labyrinth
wildphantastisch geformter und durcheinander geworfener Eismassen, von
dem keine Vorstellungsgabe sich einen Begriff zu machen imstande ist.
Regeneration des Gletscherbruchs:
Man sollte erwarten, daß talabwärts vom Gletscherbruch auf der ganzen
Strecke bis zu seinem Ende der Eisstrom nur noch ein wildes Haufwerk von
Blöcken, Trümmern und Schollen sein müßte, die sich regellos
übereinander schieben. Allein das ist nicht der Fall; die zertrümmerten
Eismassen vereinigen sich unterhalb des Absturzes wieder zu einem
normalen Gletscher, sie verwachsen wieder zu einer homogenen Eismasse,
die wenige hundert Meter unterhalb des Bruches keine Spur mehr von den
gewaltigen Störungen zeigt, die sie erlitten hat. Ja, dies geht so weit,
daß bei kleineren Gletschern, die an hohen Steilwänden ihre Massen nicht
in einem Bruch hinabwälzen, sondern von Zeit zu Zeit die über den Rand
des Absturzes hervorgeschobenen Eismassen krachend in die Tiefe stürzen
lassen, daß selbst in diesen Fällen am Fuße der Felswand das Material
der Eislawinen wieder zu einem regenerierten Gletscher zusammenwächst.
Wir haben damit eine der wichtigsten und merkwürdigsten
Eigentümlichkeiten des Gletschereises kennen gelernt, das
Zusammenwachsen getrennter Teile durch Wiedergefrieren, eine
Erscheinung, die sich nur dem Grade nach verschieden auch darin zeigt,
daß sich jede Gletscherspalte schließt und ihre Ränder verwachsen,
sobald die Ursache ihrer Entstehung nicht mehr wirkt. Dieses Phänomen
gibt uns den Schlüssel für eine wenigstens bis zu einem gewissen Grade
befriedigende Deutung der Gletschererscheinungen überhaupt an die Hand,
denn von einem wirklichen Verständnis aller Vorgänge sind wir leider
noch weit entfernt.
Bewegung durch die alte Dilaterationstheorie:
Ursprünglich nahm man an, daß Wasser in die Spalten und Haarrisse des
Eises eindringe, hier gefriere und durch seine Ausdehnung eine
Auseinanderschiebung und dadurch die Bewegung verursache. Diese
„Dilatationstheorie" konnte sich jedoch nicht halten, weil durch einen
derartigen Vorgang nicht ein einfaches Vorrücken der Massen, sondern
höchstens ein allseitiges Aufquellen hervorgebracht werden könnte. Man
hat daher eine andere Erklärung gesucht, die lediglich in der Schwere
der Massen die Ursache ihrer Bewegung sieht. Im allgemeinen trifft dies
auch zu, denn wir haben ja gesehen, daß die Bewegung der Gletscher so
erfolgt wie das Fließen eines Stromes in seinem Bett; aber gewisse
Eigentümlichkeiten, wie namentlich die Regeneration der Gletscher
unterhalb der Brüche, werden dadurch allein nicht aufgehellt.
Druck und Temperaturbedingungen des Eises:
Die Erklärung liegt in der körnigen Struktur des Gletschereises und in
den Erscheinungen der „Regelation", des Wiedergefrierens des Eises, wie
sie von Helmholtz, Thomson und Tyndall dargelegt wurde. Das Eis dehnt
sich beim Gefrieren aus, und dem entsprechend wird sein Gefrierpunkt
durch hohen Druck erniedrigt; er liegt dann nicht mehr bei 0°, sondern
bei einer tieferen Temperatur. Wenn man also Eis von 0° einem Druck
unterwirft, so ist seine Temperatur nun über dem Gefrierpunkt, d. h. es
schmilzt, und da durch das Schmelzen Wärme gebunden wird, so sinkt die
Temperatur des dabei erzeugten Schmelzwassers unter 0°. Die Folge davon
ist, daß das Wasser wieder gefriert, sobald der Druck aufhört, daß also
die Regelation eintritt. Die praktische Anwendung dieses physikalischen
Satzes findet in ausgedehnter Weise beim Anfertigen von Schneebällen
statt, das bekanntlich bei beginnendem Tauwetter am besten gelingt und
um diese Zeit von der spielenden Jugend am eifrigsten betrieben wird;
der Schnee hat dann die Temperatur von 0° und bietet die günstigsten
Bedingungen für die Anstellung des Experiments. Der Druck der Hand beim
Ballen des Schnees bewirkt Schmelzung, und wenn man zu drücken aufhört,
tritt Regelation ein, d. h. der Schnee ballt sich gut.
In dem Eis des Gletschers herrscht je nach der Neigung und der Masse an
verschiedenen Stellen verschiedener Druck, und wo dieser verhältnismäßig
stark ist, tritt Schmelzung ein; aber das unter 0° abgekühlte Wasser
bleibt nicht an den gedrückten Stellen, es entweicht durch die feinen
Haarrisse nach weniger gepreßten Stellen, wo es wieder gefriert. So
befindet sich das Eis in einem fortwährenden Zustande der inneren
Zerbröckelung und des Wiederzusammengefrierens, der seine Beweglichkeit
erhöht. Ganz besonders aber wird diese Beweglichkeit, wie A. Heim
gezeigt hat, durch die körnige Struktur begünstigt. Das Gletschereis, so
gleichmäßig es auch dem freien Auge erscheinen mag, besteht doch in
Wirklichkeit aus einem Konglomerat von Eisbrocken, zwischen denen sich
die schon erwähnten Haarspalten befinden. Die durch die Schwere
hervorgerufene Bewegung des Gletschers erzwingt ein inneres Brechen des
Eises; natürlich werden hierbei die vorhandenen Trennungsflächen von
Korn zu Korn als Flächen geringsten Zusammenhalts benutzt. Während so
die körnige Struktur die Bewegung unterstützt, wird sie anderseits durch
die Bewegung stets aufrecht erhalten. Dis Regelation aber sorgt dafür,
daß die einzelnen Körner nicht auseinanderfallen, sondern immer wieder
zusammengeschweißt werden. Diese Wechselwirkung von Regelation und
körniger Struktur, die „Plastizität aus Druck", machen die wichtigsten
Erscheinungen der Gletscher, deren Beweglichkeit und Regenerierung,
vollkommen verständlich; manche Einzelvorgänge dagegen sind noch nicht
aufgeklärt und erfordern weitere Beobachtungen.
Abb. 272: Karte des Obersulzbachgletschers
Periodizität der Gletschervorstösse:
Die Untersuchungen über Gletscherbewegung und Abschmelzung haben
ergeben, daß das Nachrücken des Eises in manchen Jahren von der
Abschmelzung gerade ausgehoben wird, so daß dann das untere Ende der
Gletscher stationär bleibt. In ausfallenden Gegensatz dazu stellen sich
periodisch wiederkehrende Jahrgänge, in denen ein stetes Anwachsen oder
Zurückweichen der Gletscher beobachtet wird. Durch eine Reihe von Jahren
sehen wir einen Gletscher um 15—20, ja selbst um 60—70 m jährlich
Vordringen, er schiebt seine Moränen vor sich her, greift hochstämmigen,
alten Wald an, zertrümmert menschliche Wohnungen und überzieht
Alpenweiden mit seinem Eispanzer. Dann kommt wieder eine Periode, wo das
Ende mehr abschmilzt als es nachrückt, so daß der Betrag des Rückzugs
schließlich 1000, 1500, ja selbst 2000 m erreicht, und es den Anschein
gewinnt, als sollte er gänzlich aufgezehrt werden, bis nach einigen
Jahren abermals ein neuer Vorstoß beginnt
Eins der auffallendsten Beispiele dieser Art ist der Vernagtgletscher in
den Ötztaler Alpen. Er besitzt zwei getrennte Firnfelder, den
Hochvernagt- und Guslar-Ferner, deren Abflüsse sich in einer Höhe von
ungefähr 2700 m vereinigen. Die letzte Vorstoßperiode war in den Jahren
1840—1848; damals war die von dem Gesamtgletscher bedeckte Fläche um 158
Hektar größer als im Jahr 1883, und das Gletscherende von 1883 warum
2092 m von dem von 1845 entfernt. Bei jeden, neuerlichen Vordringen
erfüllt der Gletscher das 2 km lange, jetzt eisfreie Talstück, und da er
damit die Mündung des querstehenden Rosentales erreicht, so wird der
Rosenbach hierdurch abgedämmt und zu einem See aufgestaut. Dieser
entleert sich nun jedesmal in wiederholten Durchbrüchen unter und neben
dem Gletscher, gewaltige Hochwasser brausen durch das ganze Ötztal hinab
und richten furchtbare Verwüstungen an, und gerade diesem Umstand
verdanken wir allein die Nachrichten über ehemalige Vorstöße in früherer
Zeit [*1]. Wir haben dadurch erfahren, daß in den Jahren 1599-1601, 1676
bis 1681,1770-1772, 1820—1822, 1840— 1848 gewaltige Vorstöße des
Vernagtgletschers eingetreten sind.
Nur wenig geringer als am Vernagt- sind die Schwankungen des
Obersulzbachgletschers. Über die ältere Geschichte dieses vom Venediger
gegen das obere Pinzgau herabziehenden Ferners haben wir leider keine
Nachrichten, wir können nur aus dem Umstand, daß am Rande der letzten
Vergletscherung uralte Zirbelkiefern stehen, den Schluß ziehen, daß seit
Jahrhunderten ein stärkerer Vorstoß als der letzte nicht stattgefunden
hat. Ungefähr seit 1850 ist der Obersulzbachgletscher ununterbrochen im
Rückzuge begriffen; er ist seither bis 1882 um volle 400 m
zurückgegangen, ein Betrag, dessen Verhältnis zur Fläche des gesamten
Gletschers die obenstehende Skizze zeigt. Im Jahre 1885 war das
Gletscherthor an der Spitze des Ferners gegen den Stand von 1882 um 20 m
zurückgegangen, das linke Gletschertor aber um 90 m, die rechte Seite um
240 m; im Jahre 1887 war die Spitze fast verschwunden; in zwei Sommern
ist also ein 230 m langer und 75 m breiter Eiskörper gänzlich
geschmolzen. Die Gesamtverminderung bis 1887 kann auf 70 Millionen
Kubikmeter geschätzt werden; die „ausgeaperte" (eisfrei gewordene)
Fläche betrug 60,25 Hektar.
Der Gletscher als Klimaindikator:
Für die Beurteilung dieser merkwürdigen Erscheinungen ist die Tatsache
von großer Wichtigkeit, daß diese Schwankungen keineswegs vereinzelt
auftreten, sondern daß sich alle Alpengletscher ungefähr gleichzeitig in
demselben Sinne verändern. So ist z. B. der Rückgang seit 1856 ganz
allgemein, und wenn sich einzelne Gletscher untereinander abweichend
verhalten, so sind die Unterschiede nur gradueller Natur und gehen auf
lokale Verhältnisse, stärkeres Gefälle, ausgiebigere Bedeckung mit
Moränenschutt etc. zurück. Übrigens sind manche dieser Abweichungen auch
nur scheinbar. Wenn man z. B. hört, daß der Aargletscher in der Zeit, wo
der nahegelegene Rhonegletscher 900 m an Länge verloren hat, nur um 40 m
zurückgegangen ist, so klingt das sehr rätselhaft, es erklärt sich aber
dadurch, daß sich der Rhonegletscher am unteren Ende sehr flach
ausbreitet und sehr dünn wird, während der Aargletscher in bedeutender
Dicke an der Stirn austritt, so daß durch gleiche Abschmelzung an ihm
natürlich ein sehr viel kleineres Areal eisfrei wird als beim
Rhonegletscher; an Mächtigkeit hat auch der Aargletscher sehr stark
verloren.
Wenn wir nun die Ursachen dieser periodischen Schwankungen ins Auge
fassen, so können wir bei der Allgemeinheit und Gleichzeitigkeit dieser
Erscheinungen wohl nur an Einflüsse klimatischer Natur denken. Jede
Vermehrung der Niederschläge und Herabsetzung der mittleren
Jahrestemperatur hat eine stärkere Ernährung der Gletscher und eine
Verminderung der Abschmelzung zur Folge, es muß sich also jede
Verschlechterung des Klimas, wenn sie nur einige Jahre anhält, in einem
allgemeinen Vorstoß der Gletscher äußern, während umgekehrt jede
Verbesserung des Klimas von einer Rückzugsperiode begleitet sein wird.
Natürlich kann die Wirkung nicht unmittelbar sein, sondern die
Verschiebung tritt immer einige Zeit später ein als der Beginn der
Witterungsverhältnisse, durch die sie bedingt ist. Bei den beiden
Vorstoßperioden dieses Jahrhunderts konnte die Prüfung auf die
Richtigkeit dieser Voraussetzungen vorgenommen werden, da uns aus dieser
Zeit hinlänglich Material zur Beurteilung der klimatischen Verhältnisse
und des Gletscherstandes vorliegt. Hierbei hat es sich nun ergeben, daß
der Vorstoßperiode von 1820 eine Reihe kühler und feuchter Jahre
vorausgegangen ist; von 1818—1835 folgten warme und trockene Jahre, die
Gletscher gingen zurück. Die Zeit von 1835 —1855 war regnerisch, aber
nur zum Teil auch kalt, und dem entspricht auch das Verhalten der
Gletscher: im Jahre 1848 begann ein allgemeines Vorrücken der
Alpengletscher, die Steigerung vollzog sich aber sehr langsam, und
ebenso war der Rückzug in der ersten Zeit träge. Erst vom Jahre 1860 an
ist der rasche Rückgang der Gletscher durchaus vorherrschend. Die
Wechselbeziehungen zwischen Klima- und Gletscherschwankungen sind also
sehr innig, und es kann keinem Zweifel unterliegen, daß diese durch jene
bedingt werden.
Erst kürzlich hat E. Brückner zu zeigen gesucht, daß sich die
klimatischen Veränderungen seit 1700 in ungefähr 35jährigen Perioden
abspielen. Reichliche Nachrichten über die Gletscherschwankungen der
vergangenen Jahrhunderte müßten bei der deutlichen Abhängigkeit dieser
Erscheinungen von den klimatischen Faktoren ein vorzügliches Mittel
sein, die Richtigkeit der 35jährigen Periode zu prüfen. Und man hat in
der Tat gefunden, daß diese Gletscherschwankungen im allgemeinen mit den
Jahreszahlen der Klimaänderungen der letzten drei Jahrhunderte
übereinstimmen, doch soll bisweilen ein Rückgang oder ein Vorstoß nur so
schwach angedeutet sein, daß er gegenüber den benachbarten Perioden
übersehen wird.
Gletscherzunahme im Mittelalter:
Viel zahlreicher als die gut beglaubigten Nachrichten über die
Gletscherverbreitung der vergangenen Jahrhunderte sind in allen Teilen
der Hochalpen Berichte über ungangbar gewordene Pässe, über Wälder und
Weideland, die jetzt von Eis bedeckt sind, und überhaupt verschiedene
Überlieferungen, die auf ein Überhandnehmen der Vergletscherung seit dem
Mittelalter hindeuten. Obwohl viele von diesen Nachrichten bedenklich an
die in den Alpen so verbreiteten Sagen von der übergossenen Alm etc.
erinnern, hat man sich doch bisher gescheut, sie rundweg in das Gebiet
der Fabeln zu verweisen. Man ist durch eingehende Prüfung zu der
Überzeugung gelangt, daß sich manche dieser Verschlechterungen auch
durch Veränderungen im bekannten Maße erklären lassen, die übrigen aber
nicht genügend beglaubigt sind. Zum mindesten bieten sie keinen
genügenden Anhalt, etwa die Möglichkeit klimatischer Schwankungen von
längerer, mehrhundertjähriger Periode darauf zu stützen.
Gletscher in anderen Regionen:
Wir haben uns bisher nur mit den Gletschern der Alpen befaßt. Dieselbett
Erscheinungen treten in größerem oder kleinerem Maßstabe in zahlreichen
anderen Hochgebirgen auf; in Europa haben noch die Pyrenäen beschränkte
Gletscher aufzuweisen, und in mächtiger Entwickelung finden sich solche
in Norwegen, dagegen fehlet! sie den Karpaten und allen Gebirgen
Südosteuropas; dies ist keine sehr auffallende Erscheinung, da sich jene
Gebirge nicht über 3000 m erheben. In Asien tragen
Kaukasus, Himalaja,
Karakorum, Kuenlun [Kunlun], Tienschan und andere Gebirge bedeutende
Gletscher; namentlich diejenigen des Karakorum verdienen wegen ihrer
mächtigen Entwickelung hervorgehoben zu werden. Dagegen sind in dem
riesigen Altai trotz seiner Lage unter dem 50. Breitengrad und des
kalten Klimas, wohl infolge der geringen Niederschlagsmenge, keine
Gletscher vorhanden. In Nordamerika ist die Eisentwickelung gering und,
abgesehen von der Polarregion, auf das Kaskadengebirge im Westen
beschränkt. Auffallend schwach ist wegen der großen Trockenheit die
Gletscherentwickelung in den gewaltigen Hochregionen der
südamerikanischen Anden; erst im äußersten Süden des Kontinents, wo die
Berge keine sehr beträchtliche Höhe mehr erreichen, aber die Regen- und
Schneefälle sehr reichlich sind, finden wir überaus entwickelte
Gletscher, die sich an den Gebirgen und auf den Inseln der Westküste
außerordentlich weit herab erstrecken und sich in einer Gegend, die
nicht weiter als Berlin vom Äquator entfernt ist, bis ins Meer
hinabschieben. Zwischen den üppigen, immergrünen Wäldern des Feuerlandes
steigen die Eisströme, von dem übermäßig nassen Klima begünstigt, bis in
die Fluten hinunter, in denen sich noch manche Muschelformen von
entschieden tropischem Typus aufhalten. Ähnliche Verhältnisse finden wir
auch auf der Südinsel von Neuseeland; nicht weiter als die lombardische
Ebene vom Äquator entfernt und in einer Region, deren mittlere
Jahrestemperatur diejenige von Wien übersteigt, senken sich die
Gletscher zwischen subtropische Wälder herab, in denen die Baumfarne
ihre zarten Wedel ausbreiten. Die Inseln östlich vom Feuerland, die
Falklandinseln, Südgeorgia, sind, obwohl nur wenig vom 50. Breitengrad
entfernt, doch total vergletschert.
Gletscher in polaren Regionen:
Auch in den polaren Gegenden treffen wir auf Gletscher von alpinem
Typus; größere Verbreitung aber besitzt die merkwürdige Form des
Glazialphänomens, die wir im Vorhergehenden als den grönländischen Typus
der Vergletscherung bezeichnet haben und die in der Ausbildung eines
gewaltigen, riesige Landstrecken gleichmäßig überziehenden Binnen- oder
Inlandeises gipfelt. Für das Verständnis der Diluvialformation ist die
Kenntnis des Inlandeises von großer Bedeutung, und wir müssen daher auf
diesen Gegenstand etwas näher eingehen. Zu den hauptsächlichsten Stätten
des Inlandeises gehört das ganze Land um den Südpol, ferner Grönland,
Spitzbergen, Nowaja Semlja und Franz Joseph-Land, dagegen enthalten
ausgedehnte Landstrecken im polaren Nordamerika und das nordasiatische
Tundrengebiet keine echten Gletscher.
Grönland:
Am besten sind besonders durch die skandinavischen und dänischen
Polarexpeditionen die Verhältnisse in Grönland bekannt geworden. Von
einer Küste zur anderen erstreckt sich das Inlandeis als ein flach
gewölbter Schild, der eine Fläche von mehr als 30.000 Quadratmeilen
überspannt und alle Unebenheiten des Bodens unter einer wohl an 1700 —
2000 m mächtigen Eisdecke verhüllt. Längere Zeit war man im Zweifel, ob
der Untergrund nicht vielleicht doch im Inneren des Landes aus dem Eis
hervorrage, aber seit den denkwürdigen Fahrten von F. Nansen und R.
Peary, die das ganze Land, Nansen im Süden, Peary im Norden, durchquert
haben, steht es fest, daß dort nichts als Eis und Schnee vorhanden ist.
Im südlichen Teil des Landes erhebt sich der höchste Punkt 2718 m über
das Meer, er liegt vom Eisrand im Osten 180 km, im Westen 270 km
entfernt. Wenn man das Inlandeis von der eisfreien, fjordzerstückelten
Küste aus untersucht, so trifft man, wo das Eis nicht an höheres
Küstenland angrenzt, nach Überschreitung des schmalen, eisfreien
Küstensaumes zuerst auf eine mehr oder weniger zerklüftete, steile
Eiswand. Daran schließt sich eine unebene, teilweise noch von der
Gestaltung des Untergrundes abhängige Eisfläche, die noch ziemlich steil
ansteigt und von vielen Spalten durchzogen ist. In dieser Randzone des
Inlandeises erheben sich an manchen Stellen steile, von den Eskimos Nunataks genannte Klippen, die einzigen sichtbaren Partien des unter dem
Eispanzer begrabenen Landes. Sie bilden gleichsam „Wellenbrecher" gegen
das von innen vordringende Eis, das auf ihrer Innenseite bisweilen hoch
auf die Felswände geschoben ist. Nur bei schneller Bewegung dacht sich
die Oberfläche des Eises gegen den Nunatak ab.
Abb. 273: Grönländisches Inlandeis (Nach Nordenskiöld)
Jenseits der Nunataks nimmt die Steigung ab, das Eis ist weniger
zerklüftet und hat eine wellige Oberfläche mit einzelnen großen flachen
Mulden. In diesen sammelt sich im Sommer das Schmelzwasser, das da und
dort in rauschenden Bächen abfließt, bis es in riesigen Gletschermühlen
und grundlosen Spalten versinkt (s. obenstehende Abbildung).
Nordenskjöld hat gelegentlich beobachtet, daß es an anderer Stelle als
kräftiger mit Luft gemengter und intermittierender Wasserstrahl wieder
ausgestoßen werden kann (s. Abbildung 274). Die oft parallel
angeordneten Spalten sind wegen ihrer Tiefe ein wahrer Schrecken für den
Reisenden; oben von azurblauem Eis begrenzt, verlieren sich ihre Wände
in schauriger Dunkelheit.
Abb. 274: Intermittierender Springbrunnen auf dem grönländisches Inlandeis (Nach Nordenskiöld)
Wenn man über diese Randzone hinaus ins Innere vordringt, verschwinden
die Nunataks und mit diesen die Spalten, man kommt in das weite
Sammelgebiet des Inlandeises, wo die Oberfläche kluftfrei und auch im
Sommer stets mit Schnee bedeckt ist. Der Schnee, der sich hier anhäuft,
wird durch seinen eignen Druck in Eis verwandelt, und durch ebendiesen
Druck, den man bei der gewaltigen Mächtigkeit des Schnee- und Eismantels
auf weit über 100 Atmosphären schätzen muß, werden die unteren Eislagen
nach den Seiten hinausgedrängt.
Bewegung des grönländischen Eises:
Trotzdem die Eismassen des Inneren mit gewaltiger Kraft nach der Küste
drängen, ist die Eisbewegung eine sehr langsame, so daß der Eiswall
nicht einmal völlig das Meer erreichen kann, bevor der vorderste Teil
abgeschmolzen ist. So kommt es, daß sich der schmale Küstensaum eisfrei
erhalten kann, obwohl die Speisung des Inlandeises aus dem riesigen
Sammelgebiet im Inneren des Landes eine überreiche ist. Zwar berührt der
Rand des Eises an vielen Stellen das Meer, ohne aber ein weiteres
Vordringen dahin zu zeigen, und man kann im allgemeinen doch von einem
eisfreien Küstensaum sprechen, der im mittleren Teil der Westküste sogar
eine recht ansehnliche Breite gewinnt.
Anders aber verhält es sich, wie schon oben erwähnt, wenn ein bergiger
Uferrand das Vordringen des Eises hindert und dieses nur durch einzelne
verhältnismäßig schmale Öffnungen Hervordringen kann. An solchen Stellen
erreicht das Eis die größte Schnelligkeit, die überhaupt bis jetzt
beobachtet worden ist, bis zu 20 m in einem Tage, es entstehen
Gletscherbrüche der gewaltsamsten und größten Art, „reißende Eisfälle,
wobei die mächtige Eisdecke, zersplittert und zerbrochen, mit
verhältnismäßig heftiger Fahrt einen wenig breiten, steilen Talweg
hinuntergepreßt wird, wo die Eisblöcke mit mächtigem Getöse einer über
den anderen dahinstürzen, und von wo Eisberge von riesigen Dimensionen
zu Hunderten und Tausenden hinuntergeschoben werden" (Nordenskjöld). Wie
die Bergs des Küstensaumes die Eisfjorde umschließen, so umsäumen weiter
nach innen Nunataks die Fortsetzung der Fjordgletscher; jeder von ihnen
hat seinen eignen, dem Flußgebiet entsprechenden Anteil an dem Eis im
Inneren des Landes und bewegt sich mit einer Geschwindigkeit, die von
der Größe, Neigung und Gestaltung dieses seines Spezialgebietes abhängig
ist. So viel man weiß, werden nur etwa 25 — 30 Gletscher so weit
vorgeschoben, daß sie beim Eintritt ins Meer zerbrechen und „kalben", d.
h. Eisberge abgeben, ein Vorgang, auf den wir hier nicht eingehen, da
wir weiter unten darauf zurückkommen müssen.
Schmelzwässer in Grönland:
Das Schmelzwasser des Inlandeises sammelt sich, ganz wie bei den alpinen
Gletschern, auf dem Grunde des Eises und dringt durch große
Gletscherthors nach außen. Zeigen sich schon die alpinen Gletscherbäche
milchig getrübt, so ist dies in noch viel höherem Grade bei den
grönländischen Gletscherflüssen der Fall; sie führen große Mengen von
Schlamm und Geschieben zur Küste und zeigen dadurch an, wie bedeutend
die Reibung und Zermalmung ist, die das Binneneis auf den Untergrund
ausübt. In einer anderen Hinsicht aber tritt der Unterschied zwischen
den grönländischen und den alpinen Gletschern sehr deutlich hervor: die
alpinen sind, wie wir dies gleich näher besprechen werden, auf ihrer
Oberfläche mit Trümmern und Gesteinsblöcken reich beladen, während die
grönländischen eine solche Blockbestreuung fast gänzlich vermissen
lassen. Nur in der Randzone, besonders in der Nähe der Nunataks, kommen
kleinere Schuttanhäufungen auf der Oberfläche vor.
Ende - p. 555 in der Frakturversion; 576 in der OCR Version
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[*1]: Die Vermurungen, die mit Ausbrüchen von Gletscherseen verbunden sind, haben wir bereits früher, S. 472, kennen gelernt.
Geschichte der Geowissenschaften
Allgemeine Geologie
Gletscher und Eiszeiten:
Gletscher Zermatt (Burmeister, 1851)
Zermatt-Gletschers (Beche, 1852)
Gletscher am Ozean (Beche, 1852)
Humboldt-Gletscher (Ludwig, 1861)
Bildung eines Gletschers (Roßmäßler,
1863)
Gletscher in Bewegung (Credner, 1891)
Arten von Gletscherspalten (Credner, 1891)
Aar-Gletscher, Beispiel (Beche, 1852)
Gletscher, Schweiz (Ludwig, 1861)
Gletscher, Zentralmoräne (Roßmäßler, 1863)
Gletscher und Moränen (Siegmund, 1877)
Gletscher Monte Rosa (Lippert, 1878)
Idealer Gletscher (Credner, 1891)
Endmoräne eines Gletschers (Vogt, 1866)
Text: Dynamik der Gletscher (Fritsch, 1888)
Ende des Rhone-Gletschers (Fritsch, 1888)
Rundhöcker bei Grindel (Fritsch, 1888)
Der Unteraargletscher (Fritsch, 1888)
Moräne, Schweizer Alpen (Fritsch, 1888)
Text: Wirkung des Eises (Neumayr, 1897)
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Gletscher in Bewegung (Neumayr, 1897)
Erosion, Transport, Gletscher (Neumayr, 1897)
Biografien
der Autoren
M.Neumayr
/ V.Uhlig (1897)
Neumayr & Uhlig (1897) in der OCR-Version, korrigiert mit Anmerkungen im
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